Er ist ja doch kein so großes Arschloch

„Dann ist er doch nicht so ein Arschloch,“ sagt ein Kollege zu mir, beugt sich dabei im Auto etwas zu mir rüber und schaut mich fast belehrend über seinen Brillenrand von unten her an, während er die Klimaanlage im Auto etwas verstellt, weil es zieht. „Natürlich, er ist ganz lieb zu den Kindern,“ bestätige ich, „ich kann sie bedenkenlos bei ihm lassen.“ „Das ist schon die halbe Miete,“ sagt er. „Wer weiß, vielleicht könnt ihr irgendwann mal wieder zusammen wohnen.“ Bitte was???

Ich winke ab. „Ich hab ja keine Ahnung,“ meint er süffisant und fühlt sich in seiner 36 Jahre anhaltenden Beziehung sehr wohl und stolz. Er hat ja keine Ahnung – sprich, er hat diese Probleme nicht. Und auch nicht nötig. Danke für den Hinweis. Gerne hätte ich ihn folgendes gefragt: Wie würdest du dich selbst bewerten, wenn du deine Frau einfach mit drei Monate alten Zwillingen zuhause sitzen lassen würdest, weil sie es einmal gewagt hätte, in einem Moment der völligen Erschöpfung und Verzweiflung zu schreien: Ich kann nicht mehr!!! Du würdest dich dann pikiert von ihr abwenden, weil sie es gewagt hat, einen Nervenzusammenbruch zu haben. Denn du hättest mal wieder geglaubt, dass sie dich persönlich angeschrien hat statt nur in den Raum hinein. Du hättest dir schnurstracks eine neue Wohnung genommen, die du vorsichtshalber schon vorher angemietet hast, weil du eigentlich von vornherein einen Plan B hattest, immer ein Bein schon auf der Straße, weg von allem, der Verantwortung. Wenn sie dich in den nächsten Tagen, in denen du noch ab und an sporadisch vorbekommen würdest, verzweifelt anbetteln würde, doch mal wieder eine Nacht zu bleiben, um dir ein Kind abzunehmen, würdest du ihr ein verächtliches NEIN ins Gesicht spucken und sofort zur Tür stürzen und das Weite suchen.

Wie würdest du dich bewerten, wenn du in den nächsten Monaten immer nur noch ein oder zweimal die Woche top gestylt und braungebrannt zu Besuch kommen würdest, um dich bloß an deiner Fortpflanzung zu erfreuen und dann nach 30 Minuten wieder auf die Uhr zu schauen und aus der Tür zu schweben, da du ja noch verabredet bist. Du würdest wegschauen und ignorieren, dass deine Frau auch im kranken Zustand keinen Schlaf bekommt, sich jeden Tag und jede Nacht um die Kinder kümmern muss. Du würdest anfangs eine drohende Email schicken und sagen, dass sie es erst gar nicht versuchen soll, dich um Unterhalt anzuzapfen, du hättest ohnehin schon genug gezahlt. Du würdest ab sofort dein Single-Leben genießen, Sport machen, so viel wie du willst und wann du willst, in den Urlaub fahren, ohne Rücksicht auf Verluste, vier neue Hobbys zulegen, weil du plötzlich so viel freie Zeit hast, dass du gar nicht weißt, was du damit anfangen sollst, du würdest Freunde treffen, Party machen und so viel arbeiten und mit Kollegen einen trinken gehen, wie es dir in den Kram passt. Du genießt wieder dein altes Leben und kostest es aus – mehr denn je. Du siehst zu, dass deine Kumpels und du weiterhin eure Männerurlaube macht, während deine Frau froh ist, mal in Ruhe duschen zu können. Sie würde für die nächsten drei Jahren zum ersten Mal so etwas wie Urlaub haben – natürlich mit den Kindern zusammen.

Die erste Nacht allein ohne ihre Kinder würdest du ihr nach zwei Jahren endlich gestatten. Davor hattest du einfach keinen Nerv für so was. Außerdem hättest du eh den Eindruck gehabt, sie würde das alles ziemlich gut allein wuppen, sie hätte ohnehin einmal gesagt, dass sie glücklich sei, mal vier Stunden Schlaf zu bekommen. Das hast du dann so gedeutet, dass ihr vier Stunden völlig ausreichen. Du hingegen hättest das Gefühl gehabt, kurz vor einem Herzinfarkt zu stehen. Dass sie selbst seit Jahren Herzrhythmusstörungen hat vor lauter Schlafmangel und Erschöpfung, hast du einfach ignoriert. Irgendwann würdest du immerhin von 10 bis 18 Uhr Zeit mit den Kindern verbringen, aber immer in der Wohnung deiner Ex-Frau, die  in der Pandemie und im Winter keinen anderen Ort hat, wo sie hin kann und euch beim Spielen zuschauen muss. Erst nach fünf Jahren können die Kinder endlich mal bei dir übernachten und dann endlich auch jedes zweite Wochenende bei dir sein. Und dann würdest du allmählich auch mal anfangen, mit ihnen Kurzurlaube zu machen. Weit traust du dich nicht weg, aber immerhin. Bei allem stellst du dich als so lieb und besonnen dar, der nur aufgrund seiner verrückten Ex keine Zeit mit den Kindern verbringen könne. So, und nun frage dich nochmal: Würdest Du sagen, ich war ja doch kein so großes Arschloch?

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